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S.
Wien 25.5.95.
Liebster Wilhelm
Dein Brief hat mich herzlich gefreut u
mich neuerdings bedauern gemacht, was
ich als die große Lücke in meinem
Leben empfinde, daß Du für mich nicht
anders erreichbar bist. Ich schulde Dir
vor allem die Aufklärg, warum
ich seit dem Wiedersehen mit Deiner theuern
Ida nicht geschrieben habe. Du hast es nicht
ganz errathen. Beurtheile mich dreist nach
dem Schema daß ich geschrieen hätte, wen̄
mir was gewesen wäre. Es ist mir sehr
gut gegangen, theils Ia, teils I, u ich habe
einige dum̄e Gedanken über den Zusam̄en-
hang, die ich Dir (später im Brief) anhängen
werde. Ich hatte unmenschlich viel zu thun
u bin nach 10-11 st. Neurosenarbeitszeit
regelmäßig unfähig gewesen, zur Feder -
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zu greifen, um Dir wenig zu schreiben, wo ich
Dir sehr viel zu sagen gehabt hätte Der
Hauptgrund aber war der: Ein Mensch
wie ich kan̄ ohne Steckenpferd, ohne
herrschende Leidenschaft, ohne einen Tyran̄en
mit Schiller zu reden, nicht leben, u der ist
mir geworden. In dessen Dienst kenne ich
nun auch kein Maß. Es ist die Psychologie
von jeher mein fern winkendes Ziel,
jetzt seitdem ich auf die Neurosen gestoßen
bin, um soviel näher gerückt. Mich quälen
zwei Absichten, nachzusehen wie sich die
Funktionslehre des Psychischen gestaltet,
wen̄ man die quantitative Betrachtung
eine Art Oekonomik der Nervenkraft,
einführt, u zweitens aus der Psychopathologie
den Gewinn für die normale Psychologie
herauszuschälen. Tathsächlich ist eine befriedigende
Gesamtauffassg der neuropsychotischen
Störungen unmöglich, wen̄ man nicht -
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an klare Annahmen über die normalen
psychischen Vorgänge anknüpfen kann.
Solcher Arbeit habe ich in den letzten
Wochen jede freie Minute gewidmet,
die Nachtstunden v 11-2 mit solchem Phantasiren,
Ubersetzen u Errathen verbracht u im̄er
erst aufgehört, wen̄ ich irgendwo auf
ein Absurdum gestoßen war oder mich
wirklich u ernstlich überarbeitet hatte, so
daß ich kein Interesse für die tägliche
arztliche Thätigkeit mehr in mir vorfand
Nach Resultaten wirst Du mich noch
lange nicht fragen können. Auch meine
Lektüre ist derselben Richtg gefolgt.
Ein Buch von W. Jerusalem, die Urtheils-
funktion, hat mich sehr gefördert, in dem
ich 2meiner Hauptgedanken vorfand.
daß das Urtheilen in einer Übertragg
ins Motorische besteht, u daß die in̄ere -
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Wahrnehmung nicht auf „Evidenz" Anspruch
machen kann.Eine große Freude bereiten mir die
Neurosenarbeiten in der Praxis. Fast alles
bestätigt sich täglich, Neues kom̄t hinzu
u die Gewißheit den Kern der Sache
in der Hand zu haben, thut mir wol.
Ich hätte eine ganze Reihe der merkwürdigsten
Sachen Dir mitzutheilen, aber brieflich
geht es nicht u meine Aufzeichnungen
sind in der Hetze dieser Tage so fragmentarisch,
daß sie Dir nichts sagen würden. Ich hoffe,
Dir soviel nach Berlin mitbringen zu
können, daß ich Dich über die ganze Zeit
meines Patiententhums amüsiren u
interessiren kann.Deine
BriefeMittheilungen hätten mich schreien
machen können. Wenn Du wirklich das
Conceptionsproblem gelöst hast, so -
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geh nur gleich mit Dir zu Rathe, welche
Sorte Marmor am ehesten Deinen Beifall
finden kann. Für mich kom̄st Du um
einige Monate zu spät, aber man kan̄
es vielleicht nächstes Jahr verwenden.
Jedenfalls bren̄e ich vor Neugierde etwas
darüber zu hören. – Die Wehenschmerz-
geschichte erscheint mir dringend mittheilgs-
bedürftig. Hast Du schon 25 Fälle?
Chrobak soll sich ein bischen ärgern
oder viel, wen̄ er das vorzieht.Breuer hingegen ist nicht zu erken̄en. Man
muß ihn wieder ohne Einschränkg gerne
haben. – Er hat die ganze Nase acceptirt
– von Dir u macht Dir einen Riesenruf
in Wien, wie er sich im ganzen Umfang
zu meiner Sexualitätslehre bekehrt hat.
Das ist doch ein ganz anderer Kerl als
wir zu finden gewöhnt sind. -
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Nun zu meinen Nasenideen. Ich habe
überaus reichlich geeitert u dabei ging
es mir glänzend, jetzt ist die Eiterg
fast versiegt u es geht mir noch im̄er
sehr gut. Ich schlage Dir folgende Ideen
vor: Es ist nicht die Eiterstockg oder Eiterg,
von der die Fernsymptome abhängen.
Eiterg macht nichts, Eiterstockg, entzündliche
Schwellg udgl macht lokale Beschwerden
u Kopfschmerzen, keine Fernsymptome.
Die Kopfschmerzen sind eigentlich Lokalsymptome
allocheirisch verlegt wahrscheinlich nach
bestim̄ten topischen Regeln (nach Gesetz der
excentrischen Projektion). Für die Fernsympt
möchte ich nur einen besonderen Reizzustand
der Nervenenden verantwortlich machen
wie wir ihn z.B. in Narben supponiren
dürfen, der chronischer Gewebsveränderg -
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in höchster Ausbildg, eben [
xxx]egenatrophischer
Schrumpfg entspricht, zu dem ein Zustand
von Epithelaustrockng udgl gehören mag.
Dieser Gewebszustand, der nach Eiterungen,
entzündl Schwellg udgl auftritt, ist meine
ich Ursache der Fernwirkgen u wird
durch Entgegenkom̄en von Seiten der
betreffenden Organe zu den einzelnen
Organfernleiden. Grober Druck, Pressg
durch Berührg zweier Schleimhautpartien
erzeugt dagegen Neuralgie u Schmerzen.
Es wären demnach 3 verschiedene Zustände
im Nasengewebe als Atiologie 3
Gruppen von Symptomen anzuklagen:
– Druck, Pressung – Schmerzen, Neuralgie
Circulationsstörg – Kopfschmerz
chronische Nervenirritation (Gewebsschrumpfg) – Fernleiden.Ich habe hier nichts zu vertheidigen, da
Du alle Schwächen sowie etwaige -
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Stützpunkte dieser Auffassg besser würdigen
kan̄st als ich. Ich möchte das nur neben
die localis. Tendenzen hingestellt haben.
Die Discussion dieser Behauptgen würde
vielleicht ordnend wirken.Dein Wolbefinden, jetzt erfüllt, ist
Bedingg alles Weiteren. Wir ziehen
Montag auf den Him̄el.Emma E. befindet sich endlich sehr wol
u es ist mir gelungen, ihre wiederherge-
stellte Gehschwäche neuerdings zu lockern.Mit herzlichst Gruß für Dich
u Deine l Frau u der Bitte
kein Praecedens aus den letzten Wochen
zu schaffenDein Sigm