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S.
Wien 8. X. 95.
Liebster Wilhelm
Eine Nachricht von Dir war mir bereits
Bedürfniß, denn Ich hatte bereits
den selten irrenden Schluß gezogen, daß
Dein Schweigen – Kopfschmerz bedeutet.
Es wurde mir wieder behaglicher, als
ich – nach langer Zeit – wieder ein Stück
wissenschaftl Materiales von Dir in
Händen hielt. Ich habe erst nur hinein-
geblickt u fürchte, an dem Respekt vor
so viel ehrlichem u feinsin̄igen Material
wird meine theoretische Phantasie zu Schanden
werden.Ich lege heute allerlei zusam̄en, einige
Schulden, die mich an ausstehenden Dank
erin̄ern, Deine Krankengeschichten über
den Wehenschmerz und 2 Hefte von mir.
Deine Aufzeichngen haben meinen ersten
Eindruck verstärkt, es sei wünschenswerth
daraus ein flügges Heft „Nase u weibl Sex“ -
S.
zu machen. Die Schlußbemerkgen mit ihren
überraschend einfachen Aufklärgen haben
mir natürlich sehr gefehlt.Nun die 2 Hefte: Sie sind in einem Zug seit
meiner Rückkehr voll-schmiert worden
u werden wenig Neues für Dich bringen
Ein drittes Heft habe ich noch zurückge-
halten, das die Psychopathologie der Verdrängg
behandelt, weil es seinen Gegenstand nur
bis zu einer gewißen Stelle verfolgt
hat. Von dort ab habe ich neu in Ent-
würfen arbeiten müßen u bin dabei
abwechselnd stolz u selig u beschämt u elend
geworden, bis ich jetzt nach dem Übermaß
geistiger Quälerei mir apathisch sage:
Es geht noch nicht, vielleicht nie zusam̄en.
Was mir nicht zusam̄engeht, ist nicht das
Mechanische daran – da hätte ich Geduld –
sondern die Aufklärg der Verdrängg,
deren klinische Kenntniß übrigens große
Fortschritte gemacht hat. -
S.
Denk Dir, unter Anderem wittere ich folgende
enge Bedingtheit: für die Hy, daß ein
primäres Sexualerlebniß (vor der Pubertät)
mit Abneigg u Schreck, für die Zwangs,
daß es mit Lust stattgefunden hat.Aber die mechanische Aufklärg gelingt mir
nicht, vielmehr ich will der leisen Stim̄e
aufmerks Gehör schenken, die mir sagt,
meine Erklärgen schlügen nicht ein.Das Heimweh nach Dir u Deinem Umgang
kam dießmal etwas später, war aber
sehr groß. Ich bin allein mit einem Kopf,
in dem so vieles keimt u vorläufig sich
durcheinander wirrt. Ich erlebe die inter-
essantesten Dinge, die ich nicht erzählen
kann u die ich aus Mangel an Muße
nicht fixiren kann. (Einen Torso lege ich
Dir noch bei.) Lesen mag ich nichts, weil
es mich zu sehr in Gedanken stürzt u
mir den Findergenuß verküm̄ert.
Kurz, ich bin ein armer Einsiedel. -
S.
Jetzt bin ich übrigens so erschöpft, daß ich
den Quark wieder für eine Zeit hin werfe
Ich will dafür Deine Migränie studiren.
Auch bin ich mit Löwenfeld in eine
briefliche Polemik verwickelt. Nach
Beantwortg des Briefes sollst Du ihn
bekommen.Wie es mir herzwärts ergangen? Nicht
besonders, aber nicht so arg wie in
den ersten 14 Tagen. Meine Aufmerks
war dießmal gar nicht dabei. Alexander
ist ein elender Schlingel u wird
Dir schreiben. Es geht ihm mit dem Kopf
vorzüglich, er ist nicht zu kennen. Anti-
popodisch klagt er noch.Meine herzlichsten Grüße an Frau
Ida u klein Paul(inchen). Das Gesindel
hier ist wol. Martha hat es sich wieder
in Wien behaglich gemacht.Dein Sigm