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Wiener klinsiche Wochenschrift, 1895, Nr. 27
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Dr. Sigmund Freud hält einen Vortrag über den „Mecha-
nismus der Zwangsvorstellungen und Phobien".Er bezieht sich kurz auf die herrschende Auffassung der Zwangs-
vorstellungen, nach welcher dieselben als rein formale Störungen im
Bereiche des Vorstellens gelten, die ihre Intensität nicht psychologischen
Motiven, sondern physiologischen Gründen verdanken. Sodann schlägt
er vor, die hieher gehörigen Fälle in drei Gruppen einzureihen: 1. die
Gruppe der traumatischen Zwangsvorstellungen, 2. die
der eigentlichen Zwangsvorstellungen oder Obsessionen, 3. die der
eigentlichen Phobien. Die Fälle der ersten Gruppe seien auszu-
sondern, sie hätten die größte Uebereinstimmung mit hysterischen Sym-
ptomen, seien als unveränderte Erinnerungsreste zu bezeichnen. Ein
historisches Beispiel einer traumatischen Zwangsvorstellung wäre etwa
das Leiden Pascal's, den eine Furcht vor einem Abgrund auf seiner
linken Seite nicht verliess, seitdem er mit genauer Noth der Gefahr
entgangen war, aus seinem Wagen in die links unten fliessende Seine
geschleudert zu werden.Von den eigentlichen Zwangsvorstellungen sagt der Vortragende,
sie lassen sich darstellen als Vereinigung eines starken Affectzustandes
mit einem Vorstellungsinhalt, der in vielen Fällen derart variire, dass
das Hauptgewicht deutlich auf den sich gleichbleibenden Affect fällt.
Der Affect sei immer peinlicher Natur, die Vorstellung nicht recht zum
Affect passend, so dass die Vereinigung dem Kranken selbst einen ab-
surden Eindruck mache. Doch sei der Kranke ohnmächtig, sich dieser
Vorstellung zu erwehren. Die Erklärung des Zwanges, welchen letztere
ausübt, sei folgende: Der peinliche Affect sei jedesmal vollbe-
rechtigt; wer z. B. an Zwangsvorwürfen leide, der habe in der
That guten Grund, sich einen Vorwurf zu machen; die an den Affect
geknüpfte Vorstellung sei aber nicht die richtige, die ursprünglich mit
dem Affect verbundene, sondern ein Substitut, ein Surrogat derselben.Die ursprüngliche, verdrängte Vorstellung lasse sich demnach
jedesmal nachweisen und zeige folgende Eigenthümlichkeiten: sie stamme
aus dem sexualen Leben des Kranken, sei peinlicher Natur und passe
vortrefflich zu dem in der Zwangsvorstellung erhalten gebliebenen
Affect. Die Wiedereinsetzung der verdrängten Vorstellung in die Be-
ziehungen, die vor dem Auftreten der Zwangsvorstellung bestanden, sei
häufig auch eine therapeutische Leistung, welche der Zwangsvorstellung
ein Ende bereite oder wenigstens einen Hinweis auf die erforderliche
Therapie gebe.Der Vortragende sucht diese Sätze durch die Mittheilung von
mehr als zwölf Fällen von Zwangsvorstellungen zu beweisen, in denen
er die Aetiologie feststellen und die verdrängte Vorstellung wiederein-
setzen konnte. Ueber die Technik, welche zur Auffindung der ver-
drängten Vorstellung führt, äussert er sich nicht. Er sucht die
drei Fragen zu beantworten, die sich aus dem Mitgetheilten er-
geben: 1. Wie ist es möglich, eine solche Substitution (der
verdrängten Vorstellung durch die Zwangsvorstellung) vorzunehmen?
2. Zu welchem Zwecke mag das geschehen? 3. Woher kommt es, dass
die substituirte Vorstellung unbestimmt lange erhalten bleibt? – Auf
die erste Frage ist zu erwidern, die Fähigkeit zur Substitution sei
offenbar eine besondere psychische Disposition, da sich so häufig bei
Zwangsvorstellungen – und auch in der kleinen Sammlung des Vor-
tragenden – gleichartige Vererbung nachweisen lasse. Zur
Beantwortung der zweiten Frage führt der Vortragende an, die Sub-
stitution erfolge wahrscheinlich zum Zwecke der Abwehr einer mit
dem Ich unverträglichen Vorstellung (vgl. den Aufsatz des Vortragen-
den über die Abwehr-Neuropsychosen im Neurologischen
Centralblatt 1894); endlich das Problem der Fortdauer der Zwangs-
vorstellung falle zusammen mit dem Problem der Fortdauer hysterischer
Symptome, und die von J. Breuer und dem Vortragenden hiefür
versuchte Erklärung decke auch den Fall der Zwangsvorstellungen.Ueber die Gruppe der Phobien äussert der Vortragende, sie
unterscheiden sich von den Obsessionen zunächst dadurch, dass der
Affect, um den es sich handle, ein monotoner, stets der der Angst
sei, ferner durch ihre typischen Erscheinungsformen im Vergleich zur
Spezialisirung der Obsessionen.Nach ihrem Inhalt könne man die Phobien in zwei Gruppen ein-
theilen: 1. Die der gemeinen Phobien oder Aengstlichkeiten
vor Dingen, die auch normalerweise ein gewisses Mass von Angst
wachrufen, wie: Gewitter, Finsterniss, Schlangen, Gefahren, Krank-
heiten u. dgl. Für die übermässige Angst vor Krankheiten könne man
den alten Namen der Hypochondrie reserviren. Auf moralischem Ge-
biete erscheine die Aengstlichkeit als Gewissensangst, Bedenklichkeit,
Pedanterie. 2. Die Gruppe der locomotorischen Phobien, als
deren Vorbild die Agoraphobie zu nennen ist. Dieser fehle der ob-
sedirende Charakter.Der psychische Mechanismus der Phobien sei aber ein ganz
anderer als jener der Obsessionen. Hier finde man bei psychologischer
Analyse keine Substitution, keine verdrängte Vorstellung, sondern stosse
als Begründung der Phobie nur auf eine psychisch weiter nicht redu-
cirbare, auch durch Psychotherapie nicht zu beeinflussende Angstneigung.
Es handle sich nun darum, Aufschluss zu geben, woher diese Angst-
neigung stamme. Nach der Darstellung des Vortragenden ist sie nicht
psychischer Herkunft, sondern stelle das Hauptsymptom einer Neurose
dar, die es verdiene, von der Neurasthenie abgetrennt zu werden und
den Namen „Angstneurose" zu führen, weil ihre sämtlichen
Symptome als Stücke des Complexes „Angst" dargestellt werden
können.1) Dieser bisher mit der Neurasthenie vermengten Angstneurose
gehörten also die Phobien an und fänden sich regelmässig von anderen
Symptomen dieser Neurose begleitet.Als häufiges Vorkommnis erwähnt der Vortragende ferner die
Combination von Obsession und Phobie in der Weise, dass auf dem
Boden der „ängstlichen Erwartung" zunächst eine (hypochondrische
oder andere) Phobie zu Stande kommt und dass der Vorstellungsinhalt
dieser Phobie eine Substitution erfährt. In der Regel wird die pein-
liche Vorstellung der Phobie substituirt durch die „Schutzmass-
regel", welche ursprünglich zur Abwehr der Phobie gewählt wurde.
So entstehen z. B. Fälle von Grübelsucht in folgender Weise: Es war
ursprünglich eine hypochondrische Angstvorstellung vorhanden des In-
halts: verrückt zu werden. Um sich zu beweisen, daß sie noch nicht
verrückt sei, habe die betreffende Person sich gewöhnt, über selbst-
aufgegebene Probleme nachzudenken, und diese anfangs als Beruhigung
dienende Thätigkeit habe später die Angst der Phobie auf sich ge-
zogen. Gerade die bekanntesten, als Folie de doute, Onomatomanie u. dgl.
beschriebenen Formen fielen unter diesen Gesichtspunkt. (Autoreferat.)Die Discussion wird vertagt.
Hofrath v. Krafft-Ebing demonstrirt im Anschlusse an den
Vortrag des Dr. Freud einen Kranken, der seit einem vor drei
Monaten erlittenen heftigen Schreck unfähig ist, frei zu geheh, da er
bei jedem Versuche von Angst befallen wird, hingegen ziemlich gut zu
gehen vermag, wenn er Stützpunkte in der Nähe sieht; der Vor-
tragende bezeichnet den zustand als Basophobie.----
[...]1) Vgl. den Aufsatz des Vortragenden über die Angstneurose im Neurologischen Centralblatt. 1895, Nr. 2.
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